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☐ Publikation Kunstlandschaft Bundesrepublik

Publikation Kunstlandschaft Bundesrepublik – junge Kunst in deutschen Kunstvereinen

Geschichte, Regionen, Materialien, Dokumentationsbeitrag
1. Band der 10 Kunstszenen seit 1945, die einen Überblick der Kunstsituation in der Bundesrepublik geben.

Orgelfabrik

 

Die Fördermittel aus der Landeskasse stellen keine echte Markthilfe für Bildende Künstler dar. Es fehlt eine interessierte Käuferschicht noch immer macht der Markt die Namen viele Galerien sind Feierabendbetriebe oder haben nach einigen Jahren resigniert. Die Künstler gehen in die großen Städte.

Dennoch schneller und früher als vor Jahren noch behaupten sich junge Künstler. „Junge Kunst“ – der Wunsch nach Erneuerung, der hinter dieser Zauberformel steht, scheint so groß wie in den Anfangsjahren nach dem Krieg zu sein. Ein Hoffnungsschimmer, als hätten sich alle, die länger als ein Jahrzehnt malen und meißeln, zwangsläufig verbraucht oder den Veränderungen der Kunstlandschaft nicht angepaßt. Das Spektrum, das sich heute an der Oberfläche der Szene zeigt, ist wie anderswo auch von lebhaften Experimenten auf der Basis rigoroser Stilmischungen gekennzeichnet. Doch die Äußerungen sind impulsiver, die „Beschäftigung mit der eigenen Biographie“ ist nicht mehr wie vor zehn Jahren verpönt und steht auf dem Prüfstein gesellschaftlicher Wirksamkeit.

Ein Beispiel ungewöhnlicher Aktionsformationen illustriert solche Möglichkeiten. Im Herbst 1983 veranstalteten die Karlsruher Maler Georg Schalla und Uwe Lindau in einer ausgedienten Orgelfabrik in Durlach das Jüngste Gericht – nachgestellt in einer zeitgemäßen Version mit Hakenkreuzen, Atomschlägen und Kirchengeläut. Beide Künstler hatten wochenlang in der Fabrik, die wie die Ruine einer Kathedrale aussieht, gelebt und gemalt. Die apokalyptische Romantik leuchtet auch im Südwesten. Die Vehemenz des Ausdrucks – die Hölle kommt von oben, die guten wehren sich mit 842 gemalten Händen von unten – lassen Ernst und Verzweiflung des Unternehmens ebenso glauben wie ein gesundes Bewußtsein der beiden Künstler, auf der Bühne zu stehen. Und so konnte die Kunstfrömmigkeit der fünfziger Jahre, der globale Anspruch der kühlen Form aus den Sechzigern, die Verhärtung und der Aufbruch in den siebziger Jahren für das begonnene neue Jahrzehnt die Version eines Abgesangs auf das Badner-Lied formulieren, wie es in der Regieanweisung zum Jüngsten Gericht von Lindau und Schalla steht:

Die Toten sind:

Gott: Bundesrichter
Heiliger Geist: Irrer
Priester: war schon immer Zuhälter
Gläubige: Penner
Vorsänger: wird benutzt für Horrordichtung
Chor: Anstaltsinsassen
Jesus: ist identisch
Teufel: ist identisch
Maria: Nymphomanin
M.M.: Hure
Johannes der Täufer: schwul
Tänzer: Puff
Kirchendiener: Idiot, der immer Geld will
Papst: Sexus Siphillus, der immer aktuelle
Tor: der langweilige aufdringliche Alte

Rainer Braxmeier


☐ Pressetext

Durlacher Blatt Nr. 15, 8. Sept. 1983
Himmelhöllenspektakel „Das jüngste Gericht“ in der Orgelfabrik

An vier Samstagen im Oktober soll einem staunenden Publikum ein künstlerisches Experiment vorgeführt werden, dessen Mischung aus Malerei, Theater, Musik, Kostümen und Texten in vielerlei Hinsicht gewagt und faszinierend ist. Übergeordnetes Thema dieses Dreiklangs: die Auseinandersetzung mit einer Institution Kirche, die von den Künstlern in unterschiedlicher Schärfe, aber einhellig kritisiert wird. Das Gemeinschaftsprojekt demonstriert freilich noch mehr: einen Affront gegenüber einem etablierten Kulturbetrieb, der Kunst, zumal die bildende, zum Gegenstand profitabler Spekulationsgewinne degradiert; für Georg Schalla die "Unterwanderung dieser müden Galerie- und Kunstvereinsszene, die nur noch behabig und langweilig ist“.

Karlsruher Rundschau Nr. 16, 18.8.1983
Wunderschöne Katastrophe. Himmel und Hölle sind Gegenstand eines künstlerischen Experimentes in der Orgelfabrik

In Umkehrung gewohnter Sehweise und Aufhebung der Gesetze der Schwerkraft findet sich die Hölle an der Decke der Orgelfabrik - aufgeteilt in drei sich ergänzende Einzeldarstellungen: die anonymen Opfer des Konzentrationslagers Ausschwitz, eine Kriegsszene im Mittelteil und eine verfremdete Eishockeymannschaft in Anlehnung an jene gepanzerten Soldaten, die die Hölle Michelangelos bevölkern. Darunter in 14 Stationen ein Kreuzweg mit einer Kreuzigungsszene, die auf eine Großbaustelle verlagert ist. Urheber dieses Höllenspektakels: Georg Schalla.

Gleichsam im Erdgeschoß der Fabrik: der Himmel. Ebenfalls in Anlehnung an Michelangelos jüngstes Gericht, auf dem 421 Menschen zu sehen sind, füllt Uwe Lindau den Himmel mit 842 Händen. Die sollen die "Brutalität abfangen, die Georgs Hölle zeigt". Der Himmel als Schutzschild, als Abwehr der Gräuel einer Hölle, die von beiden Künstlern als durchaus reale Bedrohung empfunden wird. Schalla: "Morgen schmeißen sie uns ein paar Raketen auf den Kopf. Wieso soll oben der Himmel sein? In Wirklichkeit ist die Hölle oben". Seit nunmehr vier Wochen wird in der Fabrik nahezu rund um die Uhr gearbeitet. Über den künstlerischen Aspekt hinaus könnte diese Arbeit auch einen kommunalpolitischen Effekt haben: die Künstler begreifen die Orgelfabrik als öffentliches Gebäude, wollen demonstrieren, wie halbtotes Gemäuer belebt werden kann. Schalla: "Ich wehre mich mit meiner Arbeit gegen den Abriß der Fabrik. Wir haben dieses Gebäude legal in Besitz genommen und zeigen, was darin möglich ist. Nach uns werden andere kommen und das Gleiche tun: zeigen, daß nicht immer gleich abgerissen werden muß". Alle Beteiligten sehen ihre unentgeltliche Arbeit auch als Demonstration für den Erhalt der Fabrik als öffentlich zugängliches Kulturzentrum.


☐ Bildergalerie